Um am Anfang anzufangen,
am Beginn zu beginnen
nein,
das war bereits.

Am Anfang
war das Wort
und das Wort war mit mir
und das Wort war —
nein.

Wo fange ich an?

Ich schreibe meine ersten Worte mit 6
eine Kurzgeschichte mit 8
das beste
was ich je geschrieben habe
die Geschichte ist blöd
über zwei Weihnachtsmänner
eine einfache Geschichte
einfach aber genial
plump? vielleicht
naiv? vielleicht
aber wahr
wirklich
von Herzen

Mit 16
finde ich die Geschichte
unten in einer Schublade
ich zerreiße sie
in kleine Stücke
ich bin jetzt weiter
denke ich
ich habe bessere Worte
mehr Ausdrücke
meine Themen sind nicht mehr kindisch
sondern tiefgründig, düster und dringlich
denke ich
ich bin eine sehr produktive Autorin
meine Geschichten
sind nichts als
angstvoller pubertärer Unsinn
alle sind
schrecklich trivial
und ohne eine Spur von Reflexion
ein, zwei Jahre vergehen
der Unsinn schwindet
es sind Spuren von Potential zu sehen
aber jetzt muss ich erstmal leben
wie kann man schreiben, ohne gelebt zu haben?

Um die 20
biegt mein Stil nach links ab
die Universität
gibt mir neue Werkzeuge
Worte
um meine Ignoranz zu verschleiern
Theorien
die ich nur scheinbar verstehe
ich stecke sie zusammen
wie Legosteine
packe ein „Neo–” oder „Post–” davor
baue mein kleines Theorieiglu
ich fühle mich kultiviert
mein Freundeskreis ist gebildet
anregend
revolutionär
offen
(Iglubewohner)
ich publiziere
in Studentenmagazinen
mit klugen Namen
langen, nachdenklichen Vorworten
(die keinen Sinn machen)
schrecklichem Layout
und vielen Tippfehlern
Ich lerne, die leere Seite zu fürchten
warum schreibe ich noch
nach
Homer Sophokles Ovid Shakespeare Dante Dostojewski Kafka Joyce
um nur ein paar zu nennen
also
ertränke ich meine Texte
in Anspielungen und Metaphern
ich werde unlesbar
und schreibe mehr denn je
Ich habe meine erste Schaffenskrise
zurecht
sie ist kläglich
ich sperre mich in mein Zimmer
und schreibe Gedichte
auf Papierfetzen
die ich dann esse
(keine Ahnung warum)

Mein 30-jähriges Selbst
vergisst die erlernten Worte und Theorien
und versteht ein paar von ihnen
beim Leben.
Die intellektuellen Fingerübungen
meiner Studentenzeiten
zwischen Karrierepolitiker
und Rucksackhippie
hier draußen sind sie wirklich
sie bringen mein Blut zum Kochen
machen meine Sätze härter
zielstrebiger, nüchterner
ich weiß, wofür ich kämpfe.
Ich publiziere
in Taschenbüchern
mit roten Umschlägen
Seiten
aus dünnem Papier (recycelt)
riech mal
etwas erdig
und ein bisschen verschwitzt
du kannst sie im Webshop kaufen
der Erlös geht an UNICEF.
Auf Photos
habe ich die Ärmel hochgerollt
entschlossen
wir packens an
weiter gehts
für eine andere Welt
Frontalangriff
heißt die Strategie
aber die Ziele sind flüchtig
Kapitalisten Konzerne Konglomerate
ich hole aus
und treffe nur Luft
was ich schreibe ist ernsthaft
aufrichtig
ich meine es
aber entweder ist es zu simpel
oder mit Vorbehalten zersetzt.

Das wird mein Thema
in meinen Vierzigern.
Ich begreife, dass ich mich selbst
den Stift wie ein Schwert führend sah
die entzündete Unterseite der Gesellschaft mit meinen Worten durchbohrend
meine Leser und mich selbst im austretenden Gifteiter bedeckend
aber die Tinte
die ich für Säure hielt
war letzten Endes
weniger als Wasser.
Wenn man sich seinem Köcher zuwendet
um die Pfeile stumpf vorzufinden
was ist zu tun
außer
blind vor Wut
die Pfeile selbst anzugreifen?
Ich mache mich klitzeklein
springe in die Leerzeichen zwischen Worten
und ziehe zerre schiebe schleudere hämmere bohre
an ihnen herum
ich zerlege dekonstruiere doktere
ignoriere Zeichensetzung
ignoriere Sinn
lasse Seiten leer
Siegreich?
Nein
Die Worte
stehen so wie vorher
ich kann sie fast kichern hören.
Eine weitere Schaffenskrise
ich fange an zu rauchen
betrinke mich
wanke durch die Straßen
brülle
Kämpft nicht gegen die Worte
Ihr werdet verlieren

Mit 50
falle ich in die Menopause
also müssen meine männlichen Figuren
und die Männer
dafür büßen
Verbitterung
schleicht sich ein
nur ein bisschen
die Fantasien
einer vergammelten alten Jungfer
Masturbation Kastration
ich ramme
ausführlich beschrieben
eine Büroklammer einen Penis hoch
Literatur?
nein
Einsamkeit
und ein bisschen Reue
nur ein bisschen
überraschenderweise
gewinne ich so Preise
eine Karriere im Kampf mit der Gegenwart
unnachgiebig
unablässig neue Formen der Kritik erforschend
sagen sie
bei der Zeremonie
wo ich kettenrauche
ich kriege eine kleine Statue
aus Glass
sieht aus wie ein Phallus
vielleicht absichtlich
meine Dankesrede
ist inkohärent
abschweifend
der Applaus ist stürmisch
nachts
fühle ich mich
als ob ich
auf einer riesigen Rutsche bin
keine Griffe oder Hindernisse irgendwo
ich habe beschleunigt
ohne es zu merken
ich fliege runter
kann nicht anhalten
und hab eine Scheißangst.

Die Angst bleibt bei mir
bis
ich sie einlade
zu meinem 60ten
ein Erfolg
Ich feiere das Ende
aller Versuche
aller Bedeutung von irgendwas
Ich benehme mich unanständig
entwickele
meine gleichgültige Exzentrik
ich schmeiße alles raus
das mit meinem Stil nicht stimmt
und viele alte Freunde gleich mit
auf einmal
Bin ich frei
für ein paar Jahre
ein paar glorreiche Jahre
schreibe ich
als ob ich wieder 8 wäre
alles ist egal
denn
ich kann die Wahrheit wieder sehen
sie ist weit weg
weit oben auf einem Berg
und ich bin ein Krüppel
aber
ein Krüppel mit einem Stift
mehr brauche ich nicht
ich bin ekstatisch
im Delirium
es gibt so viele Farben
im Grau der Gleichgültigkeit
ich schmeiße ihnen die Manuskripte hin
und kichere vor Vergnügen
sie sagen mir
dass sie nicht drucken werden
sie sagen
ihre Kinder schreiben besser
ich sage
ich weiß
genau deshalb
verstehen Sie?
tun sie nicht
ich gehe nach Hause
verbrenne die Manuskripte
schmeiße den Glasphallus gegen die Wand
wo er zerschmettert
rolle in einem See aus Feuer und Scherben
lache und weine
gleichzeitig
ich denke
ich war so nah dran
als ich gerade aufgegeben hatte
bin ich Kassandra?
fast
ich bin blind
aber ich trage keine getönte Brille
und niemand erträgt den Anblick.

Wie alt bin ich?
Ü 70
ich will nicht mehr sprechen
ich habe nichts zu sagen
Es ist nicht so, dass der Kampf vorbei ist,
es gab nie einen Kampf,
jedenfalls nicht da, wo ich kämpfte.
ich blicke zurück
es gibt Sammelbände,
die meinen Namen tragen
ich kann keinen davon öffnen
meine Chance auf Unsterblichkeit
mein bestes Baby
habe ich in Stücke gerissen
als mir gerade Brüste gewachsen waren
Ich versuche, es neu zu schreiben
was ich schreibe
ist nicht richtig
ich streiche es durch
und fühle mich dumm
schreibe nichts mehr
schreibe ich
und scheitere schriftlich
nichts mehr
alles ist gleich
warum bin ich noch hier?
Altern
ist zum Ende kommen
mit zu vielen Worten

Wie höre ich auf?

nichts mehr davon
nichts mehr

Ich habe noch kein Wort geschrieben.